Menschen aus der Ukraine

 

Auch weiterhin sind die in unserer Gemeinde und an anderen Orten untergebrachten Geflüchteten auf Unterstützung angewiesen.

Mehr Info zu Spendenmöglichkeiten

 

 

Wie viele von Ihnen und euch wissen, haben im März etliche geflohene Frauen und Kinder aus der Ukraine im Berger Gemeindehaus Unterschlupf gefunden. Ludmilla Parsyak, vielen sicher bekannt als die „Frau hinter der GiO-Kameralinse“, stammt selbst aus der Ukraine und hat seit Beginn des Krieges gemeinsam mit ihrem Mann und vielen Helfern jede Menge Hebel in Bewegung gesetzt, um die Unterbringung und einiges mehr für die Geflüchteten zu ermöglichen.

Um uns einen kleinen Einblick in die aktuelle Situation für bereits hier lebende und neu angekommene Ukrainer zu geben, haben Ludmilla und Egor den nachfolgenden Bericht geschrieben.

 

April 2022

„Es wird Krieg geben“ hat mein Vater gesagt.

Obwohl er in Krisensituationen bisher einen exzellenten Riecher gehabt hat, haben wir ihm alle nicht geglaubt. „Nicht im 21. Jahrhundert! Das wird die Ländergemeinschaft nie zulassen! Das ist wieder nur eine Machtdemonstration!“ Ich denke, in diesen Aussagen finden wir uns alle wieder, denn nur wenige hätten sich das, was jetzt in der Ukraine passiert vorstellen können.

Als gebürtige Ukrainerin mit einem ebensolchen Ehemann haben wir versucht, uns zuerst ein Bild über die Situation zu verschaffen und nach den ersten Bombenanschlägen alle telefonisch zu erreichen. Um uns zu vergewissern, dass es ihnen gut geht. Zugegeben, die ersten Tage waren sehr schockierend für uns alle. Das ist das Gefühl, wenn man vor einer großen Schlange steht: Der Kopf versteht, dass man umgehend handeln muss, aber man weiß nicht, wo man anfangen soll.

Den letzte Krieg haben nicht mal unsere Eltern erlebt. Die Großeltern haben darüber berichtet aber wir waren relativ unaufmerksam, um daraus etwas zu lernen. Schlussendlich: Wer verbringt schon sein Leben, um sich auf einen Krieg vorzubereiten. Was tut man in den ersten Stunden, was sollte man vorbereiten, welche Informationen sind lebenswichtig und welche irrelevant oder sogar schädlich? Keiner von uns hat das je gemacht. Wir sind unfreiwillig und unvorbereitet von heute auf morgen zu einem Krisenstab geworden. Wir wurden von der Informationsflut auf allen uns zugänglichen Kanälen und auf vier Sprachen (ukrainisch, russisch, englisch und deutsch) buchstäblich überrollt. Keine Klarheit, keine Struktur in dem was wir in diesen Tagen gemacht haben, aber anders ging es einfach nicht. Wir wurden mitgerissen und wussten, dass es ab jetzt kein Zurück mehr gibt. Trösten, Hoffnung schenken, beruhigen, Unterstützung anbieten.

In den ersten Tagen haben wir bei jedem Aufwachen innerlich so sehr gehofft, dass es nur ein böser Traum war. So von ganzem Herzen haben wir gehofft, dass heute die Realität anders sein könnte. Dann haben wir die neuen, mit den Handys aufgenommenen Bilder und Videos von den Straßen gesehen. Dieses Erwachen jeden Tag aufs Neue hat auch seelisch weh getan. Es ist passiert. Noch vor ein paar Tagen haben wir unsere Lieben mit „Guten Morgen“ begrüßt. Nun war die erste Nachricht morgens: „Lebt ihr?“ Jeder konnte betroffen sein. Eltern im Bombenbunker, manchmal Stunden unerreichbar, dann die Entspannung, erster Kontakt. Mit müden Stimmen, nach einer schlaflosen Nacht, aber verstellt und absichtlich munter versuchten sie uns zu erzählen, dass alles gut ist und kein Grund zur Sorge besteht. Die Sirenen im Hintergrund heulen eintönig.

Man kämpft mit den Tränen und versucht mit der gleichen verstellten Stimme etwas aufmunterndes zu sagen. Vor den Augen in diesem Moment zerstörte Häuser und Panzerfahrzeuge auf Straßen, die man als Kind gelaufen ist. Der Kopf kocht. Man lebt in einem wohlhabenden Land, man hat alle erdenklichen Technologien, Netzwerke und Beziehungen ist aber machtlos. Was ist das Richtige: Losfahren und die Eltern und Geschwister abholen? Transportmöglichkeiten suchen oder sie lieber in der Nähe von Schutzbunkern lassen, da auf den Straßen die Fahrzeuge angeschossen werden können? Von deiner falschen Einschätzung, deinem falschen Ratschlag könnte das Leben Anderer abhängen. Kannst du es dir nachher verzeihen? Es ist so unfassbar schwer – ich bin doch ein Laie, wie soll man das alles verstehen?

Ich kenne niemanden mit Verwandten und Freunden in der Ukraine, der in dieser Zeit nicht involviert gewesen ist an deren Flucht aus Krisengebieten. Man steht ständig unter Druck, weil mit jedem verstrichenen Tag die Straßen gefährlicher und auch teilweise nicht mehr passierbar waren. Unsere Aufgabe bestand darin, den gesamten Informationsfluss zu überwachen, die bestmöglichen Fluchtwege herauszufinden, sichere Zwischenstopps zu suchen, die Schlangen an den Grenzübergänge einzuschätzen und vor allem eine Unterbringungsmöglichkeit in Deutschland zu organisieren.

In Deutschland wurde alles anderes. Man geht auf die Straße und taucht plötzlich in eine andere Welt. Alles erscheint surreal: Was ist jetzt die Realität? Man sieht einen Stau auf der Straße und unfreiwillig spürt man die Kälte im Inneren. Nicht vollständig abgekoppelt von der Ukraine und nicht vollständig eingeschaltet in die deutsche Realität. Ein sehr unbeständiges Gefühl, als ob man die ganze Zeit den Halt verliert. Es müssen aber wichtige Fragen beantwortet werden: Was passiert, wenn die Menschen hier ankommen? Welche ersten Schritte müssen gemacht werden? Die Informationen sind zwar da, aber sie sind sehr allgemein: Nichts Konkretes, keine Adressen, keine Telefonnummern, keine Zuständigen. Man wird wieder zu einem Netzwerk der in Deutschland lebenden Ukrainern. Neue Informationsflut: Wer hat was, wann gehört, gelesen, in Erfahrung gebracht. Alles wieder von Null an.

Zur gleichen Zeit versuchen wir überall zu sein: In Meetings – viele Menschen scheinen nichts darüber zu wissen, was in den letzten Tagen passiert ist. Man versucht aufzuklären, vorsichtig Bilder zu zeigen. Die Passanten sind schockiert: Passiert das etwa in Europa? Ja, es ist in der Tat nicht weit von unseren Haustüren! Die Transporte der Menschen von der Grenze mit eigenen Autos – die Fahrer müde und bis zum Umfallen hinter dem Steuer. Die Freunde und Bekannten helfen und opfern ihre freien Urlaubstage um als Zweitfahrer mitzufahren. Ach ja, und arbeiten muss man auch parallel, obwohl die Arbeitgeber meistens mit viel Verständnis auf die Situation reagieren. Es gibt so viele Menschen, welche Kriege miterlebt haben. Eigentlich zu viele für unsere moderne Zeit. Es ist erschreckend!

In der Kirche, wo die ersten Listen für die humanitären Güter gedruckt werden: Wir haben sowas noch nie gemacht, wir haben noch keine Erfahrung aber wir möchten helfen. Bis spät in die Nacht arbeiten wir alle und am nächsten Abend bringen die ersten Menschen benötigte Sachen. Man ist beim Abladen und bringt die Hilfsgüter in die Lagerräume des Kirchenkindergartens. Friedensgebete in verschiedenen Gemeinden, die uns einladen, das Leid mit uns teilen möchten und gleichzeitig die Hand reichen: mit tatkräftiger oder finanzieller Unterstützung. Es ist wichtig, an der Stelle zu betonen, dass die Kirchen, christlichen Gemeinden und deren Verantwortliche die Ersten waren, die ohne Wenn und Aber sofort ihre Unterstützung angeboten haben.

So war es auch bei der Heilandsgemeinde. Dank Pfarrer Albrecht Hoch haben wir sechs Wohnungen im Gemeindehaus bekommen. Gemeinsam haben wir die Wohnungen angeschaut und am nächsten Tag schon mit dem Putzen und der Renovierung begonnen. Man lebt dabei unter ständigem Druck – die Menschen sind bereits unterwegs. Es gibt keine Zeit zum Warten. Also bringt man – mit Putzlappen oder Farbwalze in einer Hand und glühendem Handy mit den Fahrtanweisungen für die Verwandten in der anderen – die Wohnungen wieder in Ordnung. Ohne das interne Heilands-Netzwerk der wunderbaren und hilfsbereiten Menschen hätten wir das nie rechtzeitig geschafft.

Das Christentum war für mich immer ein Glaube der Taten. Gott sei Dank, waren wir nicht allein mit diesem Verständnis! Die Liste der Unterstützung ist groß: Wohnungen sauber machen, Müll und Sperrmüll rausbringen, Sachspenden und Geldspenden organisieren, Autos und Transporter zur Verfügung stellen, eigenen Netzwerke einschalten, Möbel bringen und zusammenschrauben. Ohne Hilfe wäre nichts möglich gewesen. Vor Erschöpfung lagen wir alle nach zwei Wochen krank im Bett. Das passierte übrigens vielen Helfern ohne Erfahrung auf diesem Gebiet. Die psychische Belastung hat eine starke Rolle gespielt. Mit Fieber im Bett musste die Koordination dennoch weitergehen.

Erschöpft, ausgelaugt, grau im Gesicht und stark mitgenommen von den schlimmen Erlebnissen kamen die ersten Familien an. Viele hatten nur das was sie am Leibe trugen mit sich. Ein paar Kleidungsstücke haben sie von den Helfern an der Grenze bekommen und etwas zu essen in den Klöstern, in denen sie in Polen und Deutschland übernachtet haben. Wir haben sie viel früher erwartet, aber der Fahrer war zu erschöpft um durchzufahren und hat öfter Halt gemacht. Kein Wunder – war er doch selbst auch schon seit Tagen unterwegs – zuerst die Hilfsgüter an die Grenze bringen und dann die geflüchteten Familien wieder zurück.

Duschen, essen und schlafen – in Sicherheit und bei Freunden. Die Kinder haben die Reise meistens gut überstanden, die Eltern haben noch tagelang Alpträume gehabt.

Nachdem wir den ersten Familien beim Einzug geholfen haben, begann die Zeit der Behördengänge, Schul- und Integrationskursanmeldungen, Übersetzungen sowie des Besorgens alltäglicher Dinge wie Telefonkarten und Internet.

Nicht nur die deutschen Mitbürger möchten helfen, die angekommenen Ukrainer sind oft gut qualifiziert. Sie wurden aus ihren Routinen rausgerissen, aber das heißt nicht, dass dies für sie ein Dauerzustand ist. Damit sind Sie auch nicht einverstanden und möchten helfen, wie ihnen gerade geholfen wurde. So schließt sich der Kreis und zeigt wieder und wieder, dass Gutes zu tun die beste Antwort auf Hass und Neid dieser Welt ist.

So entstand eine Initiative für Kinder und Senioren aus der Ukraine. Im ehemaligen Kindergarten treffen sich regelmäßig Senioren und tagsüber betreuen Erzieherinnen aus der Ukraine kleine Kinder. Es herrscht eine motivierte und gemütliche Stimmung – man will ein Stück heile Welt erschaffen und sie mit anderen Geflüchteten teilen. Wir haben während dieser Zeit Gottes Präsenz so stark wie nie zuvor erlebt. Jedes Mal, wenn wir dachten „An dieser Aufgabe zerbrechen wir“, kam ein Anruf von einem Freiwilligen, der genau diese Aufgabe übernommen hat. Für unseren Herrn ist nichts unmöglich! Die Idee vom ukrainischen Club war da, der Hilferuf ins Netzwerk gesendet und weitere Spenden kamen: Stifte, Papier, Tische und Stühle, Gartenmöbel und Regale. Von einem Verlag erhielten wir eine Menge Kinderbücher. Obwohl einige Kinder traumatisiert sind, versuchen sie ein normales und geregeltes Leben zu führen, Freude und Unbekümmertheit neu zu entdecken.

Die Ukrainer sind überwältigt und schließen alle Helfer in ihre Gebete ein: diese Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft wurde hier in Stuttgart und insbesondere von den hier lebenden Christen auf ein anderes Niveau gebracht. Wenn man uns fragt, wo ist der Gott in all diesem Geschehen, dann erzählen wir genau diese Bespiele der wahren Liebe und der Gottespräsenz, welche durch die Wochen die Geflüchteten aus der Ukraine begleiteten.

Ludmilla und Egor Parsyak